Huber, Katja

Reise nach Njetowa

Roman
192 Seiten, Englische Broschur
Euro 19,90 [D]  Euro 20,50 [A] SFr 34,90
ISBN 978-3-87410-108-0

Biographie  Leseprobe  Pressestimmen

 

Lost Weekend
Auf der Suche nach dem guten Gefühl

VON KATJA HUBER

Tanja fliegt nach St. Petersburg, um einen ungewöhnlichen Reiseführer zu schreiben. Ungewöhnlich, weil sie den Inhalt - erfindet. Sie weiß noch nicht, daß ihr ein wesentlich älterer Mann folgt. Sie verlieben sich ineinander. Eine unglückliche Affäre, die mit Gedächtnisverlust, Verdrängung und Geschlechtsverwirrungen fortschreitet – wie immer bei Katja Huber in schnellem, lockerem Ton. Sie errichtet über Betrug, Inzest und Verlorenheit ein kunstvolles literarisches Gebäude.

Die Darstellung der Hauptpersonen und Handlungsstränge bedient sich einer ganzen Reihe von literarischen Formen und Verfahren wie der Rückblende, des Traums, der Erinnerung, des inneren Monologs, der Projektion, des Filmschnitts, der Theaterdramaturgie u. a. und bildet so die komplexen Vorgänge auf allen Textebenen ab.

Ein Mann träumt, er erwartet die Ankunft seiner 30jährigen Tochter Tanja, die ihn nicht kennt, auf dem St. Petersburger Flughafen. Als er erwacht, schafft er es gerade noch rechtzeitig, dort zu sein, um sie bei der Ankunft wenigstens zu sehen.
Bei den Erkundungen für ihren Auftrag eines ungewöhnlichen Reiseführers abseits der abgeklapperten Attraktionen macht sie die Bekanntschaft eines älteren deutschen Besuchers der Stadt (ihres Vaters, was sie nicht weiß). Sie treffen sich täglich, wissen nicht viel voneinander, er scheint krank zu sein, sie spinnen Geschichten für den Reiseführer, sie verlieben sich ineinander und reisen nach Moskau, wo sie im Hotel die Grenze einer Vater-Tochter-Beziehung weit überschreiten. Da entdeckt Tanja auf einem zu Boden gefallenen Foto, daß er ihr Vater ist, der die Familie vor 25 Jahren verlassen hat.
Sie flieht entsetzt, stürzt vor einen Bus und erleidet eine Amnesie. Sie weiß nichts mehr von Reisezweck und Vaterschock.
Die Etagenbesorgerin des Hotels „Druschba“ nimmt sie auf, Sofija Alexejewna, die selbst am Problem ihres abwesenden, aber seit Jahren täglich zurück erwarteten Sohnes laboriert. Tanja verbringt ihre Zeit zwischen zielloser Suche nach dem, was sie erinnern will, und Abwehr dessen, was sie verdrängt, bei Sofija, mit der sie ein verwandter Charakter herzlich verbindet. Sofija ist es schließlich, die nicht mehr verdrängen kann, daß Aljoscha aus dem Afghanistan-Krieg nicht mehr zurückkommen wird. Sie gibt Tanja das für ihn gesparte Geld, damit sie zurück nach St. Petersburg fahren kann.
Bei der zwanzigjährigen Natascha kommt sie dort in einer Komunalka, einer Gemeinschaftswohnung, unter. Sie ist völlig mittellos und versucht, in zweifelhafter Gesellschaft, sich auf dem Markt Geld zu verdienen. Nataschas Freund Miguel bleibt ein unsichtbares Phantom und diese selbst hat eine merkwürdig enge Beziehung zu ihrem Vater, dem Arzt Waleri. Bei ihm findet Tanja einen Job als Protokollantin seiner Krankenbesuche. Allmählich stellen sich wieder Erinnerungen an ihre Kindheit ein und Wünsche: Waleri findet mehr und mehr ihr Interesse als Mann, obwohl er fast doppelt so alt ist wie sie. Wiederholt sich da etwas?
Natascha nimmt sie mit in die drogengeschwängerte Disko „Red Club“ im Kreis ihrer 10 Jahre jüngeren Freundinnen. Aber das ist nicht mehr Tanjas Generation. Am Morgen offenbart Natascha ihr, daß es Miguel nicht gibt und daß sie nur an Tanja interessiert ist, nicht ahnend, daß diese sich inzwischen heftig in Waleri verliebt hat. Im Versteckspiel zwischen Tanja-Waleri-Natascha, während sie schon mit Waleri vor dem Hotel steht, wird Tanja endgültig klar, daß sie sich weder auf Waleri noch auf Natascha einlassen will. Dahinein platzt der Telefonanruf von Tanjas Mutter, die ihr mitteilt, daß ihr Vater in Moskau gestorben ist.
„Gleich wird sie diesen Hotelvorplatz verlassen. Diese Straße, diese Stadt, dieses Land. Sie muß sich nur ausruhen, nur noch ein paar Sekunden.“

Katja Huber Katja Huber, *1971, studierte Slawische Philologie und Politische Wissenschaften in München. Seit 1996 Hörfunkarbeit beim Bayerischen Rundfunk, seit 1999 hauptberuflich beim BR-Zündfunk mit zahlreichen journalistischen und literarischen Beiträgen.

Nominiert für den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, Klagenfurt 2006. Bayerischer Staatsförderpreis Literatur 2006. Das Heft NR. 62 mit dem Titel «Vielleicht auch nur geträumt» der WEILHEIMER HEFTE ZUR LITERATUR ist Katja Huber gewidmet.

Veröffentlichungen:

Hörspiele: 
Das Ticken des Vaters/Radio Bremen 2001, Hechtzeit/BR 2002, 
Wir allein/SWR 2003, Melonen/BR 2004, 
Der amerikanische Wels/Mega eins Verlag 2004.

Erzählungen in Anthologien,
Fernwärme, Roman (P. Kirchheim Verlag 2005).

Leseprobe:

In neun Stunden läuft das Ultimatum ab. Wenn er bis heute 21 Uhr Moskauer Zeit nicht mit ihr geredet hat, wird sein Geheimnis sein Geheimnis bleiben, und er von hier verschwinden - hat er vor einer Woche mit sich ausgemacht, und ihr deshalb auch versprochen, ihr heute seinen Arbeitsplatz zu zeigen. Die Wahrheit also: keine Arbeit, keine Geschäftsreise, keine wunderbare, zufällige Bekanntschaft mit der großartigen ... Ich bin dir hinterher gereist, oder besser gesagt, voraus gereist, um dich nach über fünfundzwanzig Jahren zum ersten und zum letzten Mal zu sehen ...
„Was machst du denn schon wieder hier? Ich dachte, du hast erst ab zwei Uhr Zeit? Aber, um so besser, dann kannst du mir gleich deinen Arbeitsplatz zeigen!“
Sie hat mich! Also: wieso noch bis neun Uhr abends warten? „Ich will mit dir nach Moskau fahren. Dir die Stadt zeigen.“
„Die Stadt zeigen? Du mir?“
„Nein, du mir, meine ich natürlich. ... Wieso sollte ich dir eine Stadt zeigen, die ich nicht kenne? Du zeigst mir die Stadt, und außerdem müssen wir noch etwas besprechen.“
„Ist was passiert?“
„Gar nichts ist passiert. Wir machen Urlaub. Ich lade dich ein. Und zwar sofort.
Für wie viel Uhr waren wir ursprünglich verabredet?“
„Zwei!“
„Also noch knapp zwei Stunden. Das reicht zum Packen. Um zwei Uhr treffen wir uns am Bahnhof.“
„Aber, ich muß doch...“
„Nichts, was du nicht auch in Moskau könntest. Schon im Zug denken wir uns so viele Geschichten aus, daß du damit drei Reiseführer füllen kannst.“
Mit der Dreier vom Gostiny Dwor zur „Majakowskaja“: 2 min 40. Wieso ausgerechnet Moskau?
Übergang zum Ploschad Wosstanija. Mit der Einser zum Ploschad Lenina: 6 min. 
Wieso ausgerechnet jetzt?
Zu Fuß zum Hostel: 8 min. Wieso überhaupt eine andere Stadt? Was kann man einem Menschen, den man, obwohl man ihn nicht besonders gut kennt, ganz offensichtlich sehr gerne hat, in einer anderen Stadt besser sagen, als in der, in der man ihn kennen gelernt hat? Es läßt sich nicht nur nicht in einem anständigen Satz formulieren, es stimmt einfach von Grund auf nicht. Wieso nach Moskau? Wieso jetzt?

Pressestimmen:

Katja Huber war mit ihrem Manuskript "Reise nach Njetowa" unter den 18 Nominierten bei den 30. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Alles darüber ist nachzulesen, zu hören und zu sehen unter: www.bachmannpreis.orf.at

Das dreißigste Jahr. 
Klagenfurter Neurosen: Der Bachmann-Wettbewerb


Der dreißigste Bachmann-Wettbewerb war drei Tage lang der verheißungsvollste und in seiner letzten Stunde der enttäuschendste und neurotischste seit Jahren. … Wie gehen Menschen um mit der Zeit, die bleibt: Das war eine der dringlichen Fragen, die mehrere Texte stellten, doch glücklicherweise niemals endgültig zu beantworten versuchten. Ein ehemaliger Lehrer mit wenig Hoffnung auf eine Spenderniere sucht in Gestalt eines Untermieters einen Gefährten; eine alte Russin verweigert sich im Friedhofsgespräch mit den großen Toten der Tatsache, dass ihr Sohn in Afghanistan gefallen ist [zu Katja Huber] … 
Frankfurter Allgemeine Zeitung Felicitas von Lovenberg

Favoriten-Sterben. 
Klagenfurt 2006: Nur beim Hauptpreis überzeugte die Jury


Klagenfurt 2006 war ein sehr starker Jahrgang. Selten hatte der Wettbewerb so viele Texte zu bieten, die eine Auseinandersetzung lohnten. … Denn diesmal spielten substantielle Themen eine wesentliche Rolle, wurden Fenster in Wirklichkeiten aufgestoßen, die auch dann interessant waren, wenn sie zum literarischen Kunstwerk nicht immer werden wollten. Das desillusionierende Selbstmanagement in der Arbeitslosigkeit stand bei Claudia Klischat auf der Agenda, der Afghanistankrieg der Sowjetunion bei Katja Huber. Von den flackernden Welten intellektueller Neonazis erzählte Kevin Vennemann, … 
Süddeutsche Zeitung Ijoma Mangold

Lost Weekend: Auf der Suche nach dem guten Gefühl
VON KATJA HUBER

Katja Huber stellt sich donnerstags die Frage, was sie eigentlich am letzten Wochenende gemacht hat. Denn das nächste kommt bestimmt. Und dafür sollte man vorbereitet sein, wenn die Suche nach dem guten Gefühl wieder von neuem beginnt.

Diesmal: Lost in Klagenfurt

Samstag Morgen. Obwohl mein erster klarer Gedanke "Durchfall statt Durchbruch" ist, lautet mein Tagesmotto noch "Zuversicht". Ich lasse mir doch von einem Publikum, das auch am dritten Tage des Klagenfurter Wettlesens nach einer literarischen Sensation giert, von neun berüchtigten Juroren, perfekt funktionierenden Kameras und komplett destruktiven Karmas nicht den Tag versauen.

Dass der bisher heißeste Tag des Jahres ein besonderer ist, merke ich erneut um kurz vor neun, als vor der Tür zum ORF-Theater Sonne auf Gänsehaut auf Monschein trifft. Es ist nicht die Sonne, die mich zum Schwitzen bringt. Es ist die Gans in mir, die mir fröstelnd zuflüstert, dass man sie da drinnen gleich unter Umständen ernst, auf jeden Fall aber aus- und auseinander nimmt. Es ist Frau Monschein, die Organisatorin der Literaturtage, die mich jetzt in den Saal führt. Über Monitore wird dem Publikum ein Portrait von Katja Huber präsentiert. "Lost Weekend - auf der Suche nach dem verlorenen Gefühl" sagt die Off-Stimme, "das heißt aber 'nach dem GUTEN Gefühl'", denke ich, und überlege, ob das "verloren" nicht ein ganz eindeutiges ganz negatives Zeichen ist. Aber im Gegensatz zur Russin Sofija, von der mein Text handeln wird, bin ich ja Gott sei dank fast nicht abergläubisch, und so setzte ich mich auch ohne drei mal zu klopfen an das mir zugeteilte Stück Holz, der Moderator flüstert mir irgendwas auf Russisch zu, aber das Rauschen in meinen Ohren ist viel zu laut, ich verstehe nichts, und so lächele und nicke ich nur dümmlich und - fange an, vorzulesen.

Ich lese. Ich lese und lese und lese, und vielleicht ist es die Konzentration, die einzig den Text und nichts anderes ernst nimmt, vielleicht ist es meine Stimme, die endlich souverän klingt, vielleicht ist mein Gefiedergen auch gerade schlagartig umgewandelt worden - in ein Raubtiergen: Zwischen den Wörtern, den Zeilen, dem Verschnaufpausen, kann ich die Gans aus meinem Körper treten und in die Holzkiste unter mir springen sehen. Ich bin eine Leselöwin, ich blicke vom Text auf, ich erinnere mich an den Rat einer Freundin "Suche dir Sympathie-Inseln im Publikum, für die allein du liest!"

Ich blicke in die Kamera und spüre, dass die Welt voller Sympathie-Satelliten ist, die mir zusehen und zuhören: Von Salzburg aus, von Wien, von München und Berlin, von Peißenberg, von Nürnberg, vom Ammersee, von Prag - kann man in Prag eigentlich 3sat empfangen?, frage ich mich nicht wirklich, denn so unkompliziert ist mein Text auch wieder nicht und Anteil nehmen kann man auch ohne Fernseher.

Ich lese und lese und lese und lese irgendwann den letzten Satz, und da unten in der Holzkiste vegetiert die Gans, und hier oben leuchtet die ihr längst Herr gewordene Herrin, sitze ich. Ich lächle. Und die Dame zu meiner Linken versteht mich. "Der Text versucht in einem märchenhaften Ton eine Versuchsanordnung nachzustellen, die Tote wieder lebendig machen soll.", sagt sie, und genau, es ist die Literatur, die Tote lebendig machen kann, denke ich, und vergesse vollständig, dass es die Literaturkritik ist, die Lebendige tot machen kann.

Doch Pech gehabt: im Verlauf der nächsten halben Stunde erinnert mich die Literaturkritik genau daran. Ich höre "unsinnliche Sprache", ich höre "Kolportage", ich höre "Folklore" und "Stilblüten". Eigentlich wäre es jetzt an der Zeit, aufzustehen und ein bißchen zwischen den Holzkisten zu weinen und zu wüten. Da ich mich aber auf die Spielregeln eingelassen habe, und da ich jetzt schon vermute, dass ich in wenigen Stunden oder Tagen etwas mit der Kritik anfangen kann, strecke ich meine Zunge nicht heraus, werfe kein Wasserglas, sondern höre mir ausnahmslos alles ohne ausfällig zu werden an.

Und es kann schon sein, dass die gerade noch so lustige Leselöwin jetzt sehr sehr müde und auch ein bißchen traurig ist. Doch sie weiß schon jetzt, dass sie eine Löwin bleibt, und die Gans bis auf weiteres in ihrer Klagenfurter Holzkiste eingesperrt ist.

Den Nachmittag werde ich auf jeden Fall damit verbringen, mir den Bleisatz von der Wörtherseele zu schwimmen, all die Klagen furt zu diskutieren und noch mindestens weitere hundert Stilblüten zu produzieren, denn schließlich geht es weiter, und auch von meinem Klagenfurter Lost Weekend will ich profitieren.

Bayrischer Rundfunk, 29.6.06

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