Sara trifft Toni nach Jahren wieder
– beim Begräbnis der Frau, die sie beide als verwaiste Jugendliche
aufgenommen hat. Die alte Vertrautheit und die alten Schwierigkeiten,
die unbewältigten Ereignisse leben wieder auf. Und dann laufen ihnen
noch zwei Achtjährige zu, der jähzornige Oliver und das Mädchen,
das seinen Namen vergessen hat. Als sollten Sara und Toni sich in den
Kindern spiegeln, beginnt das Spiel von neuem. Aber das alte Spiel ist
noch nicht zu Ende gespielt.
Aus Berlin kommt Elvira dazu. Als Mittlerin? Sara hat einst Toni mit
dem Holzscheit geschlagen, und mit ihm ihre erste sexuelle Begegnung
gehabt. Auch Elvira ist in alten Verletzungen gefangen. Das kleine
Mädchen Namenlos erlebt etwas Zerstörerisches mit einem weißen
Zauberer beim Winterfestival.
Und der dicke Oliver, ohnmächtig seiner Wut ausgeliefert, versucht
vor allem davonzulaufen. Sie streiten, gehen auseinander, nähern sich
wieder an, gehen auseinander …
Doch eine Wende kündigt sich an: Elviras Liebe für den kleinen
Oliver hilft ihm über den Berg. Sara und Namenlos, nur
Mißverständnissen erliegend, lernen sich durch das Spiel mit
Gebärden verstehen. Und sind es am Ende die Kinder, die Elvira und
Sara ihre Liebe zueinander entdecken lassen?
Erzähler- und Zeitenwechsel, Lakonik, poetische Sprachpfade, Humor
und großartige Dialoge machen den ereignisreichen, spannenden Stoff
zu einem literarischen Vergnügen.
Sara ist verwandelt. Sie ist weiß.
Weiß hat keine Worte. Weiß ist nur da und still. „Warum sagst du
nichts?“ Sara lächelt weiß. Sie dreht einen unsichtbaren
Schlüssel vor ihrem Kehlkopf. Dabei bewegt sie die Lippen, ohne zu
sprechen. Aus irgendeinem Grund hat jemand den Ton abgestellt.
„Hast du deine Stimme eingesperrt?“ Sara lächelt. Das Mädchen
hofft, ihr Lächeln würde vergehen wie eine weiße Wolke und nicht
liegen bleiben wie weißes Eis. „Schlafen. Richtig schlafen, ich
schlafe doch nicht falsch. Gut schlafen?“
Sie will diese ganze Weißheit nicht. Sara ist rot. Manchmal hellrot,
manchmal orange, hin und wieder auch dunkelrot, aber weiß war sie
noch nie, und das Kind versteht nicht, wie aus so viel Rot auf einmal
Weiß werden kann.
„Warum sagst du nichts!“ Sara runzelt die Stirn und zeigt ihre
Handflächen. Das heißt: Punktausbastaschluss. Dann macht sie: Komm,
aufstehen, essen. Was einfach zu verstehen ist. Das Mädchen rutscht
vom Bett und öffnet die Tür. „Schau, es hat geschneit!“ Die
weiße Frau nickt weißweich. Das Schweigen ist wie Wasser, in dem
jedes Wort ertrinkt. Sie sieht Sara zu, die sich mit weißer Zahnpasta
ihre weißen Zähne putzt und fragt und fragt sich, wie Sara sich
innerhalb einmal Schlafens verfärben konnte.
Als es noch nicht schneite, hat Sara noch gesprochen. Als es noch
nicht schneite, hat Sara sie mit Worten erstochen. Doch wie kann der
Schnee weiß und schön und Sara weiß und beängstigend sein?
Weil das Wesen des Schnees weiß ist. Darum ist er schön. Weil Weiß
dort hingehört. Und das Wesen von Sara ist rot. Weshalb Weiß an ihr
beängstigend ist. Weil es dort nicht hingehört. Das ist, als ob es
mitten im August im Caravan während des Abendessens zu schneien
begänne. Alle würden durcheinander reden, alle würden sich wundern.
Und gewiss würde niemand glauben, dass es tatsächlich Schnee ist,
der da herunterkommt. Weil er nicht in den Caravan gehört. Weil er
dort am falschen Platz ist. Und auch noch zur falschen Zeit.
Gestern ist mir etwas Lustiges passiert, würde Sara sagen. Ich saß
gerade beim Abendessen, da kam eine Ladung weißer Flocken
heruntergerieselt. Es war höchstwahrscheinlich nichts anderes als
eine Täuschung, aber für einen Moment dachte ich doch tatsächlich
es sei Schnee! Ist das nicht komisch?
Hochsommer, Caravan und Schnee passen nicht zusammen. Und wenn Dinge
geschehen, die nicht zusammen passen, glaubt man sie nicht, selbst
wenn sie direkt auf die eigene Nase herabrieseln.
„Weißt du, was eine Täuschung ist?“ Sara sieht sie an, die
Augenbrauen hochgezogen, ein sehr lautes, vernehmliches: Ja? „Ach
nichts.“ Sie seufzt. Ohne Ton. Mitten im Weiß machen Laute keinen
Sinn.
Sabina Lorenz, geboren 1967,
Studium der Sozialpädagogik in München und London.
Verschiedene Auszeichnungen und Preise zwischen 2002 und 2008,
Förderpreis des Stuttgarter Schriftstellerhauses, der im April 2011
verliehen wird.
Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften, u.a. in
ndl.
Einzeltitel:
»Die Fremde ist ein Ort«, Gedichte, 2007 (Lyrikedition 2000)
»Echos für eine Nacht«, Gedichte, 2010 (Lyrikedition 2000)