Giuseppe Ungaretti: Ein Menschenleben

Band 4: 

Die Wüste und weiter - 
Il deserto e dopo 

Reiseprosa 1931-46

456 Seiten, Leineneinband mit Lesebändchen und Schutzumschlag
€ 50  SFr 86,30  *Ö-€ 51,50
Subskription: € 44  SFr 76 *ÖS 628
ISBN 3-87410-050-2

Die zwischen 1931 und 1934 für die Gazzetta del Popolo geschriebenen Reiseberichte befassen sich neben dem Land Ägypten, in dem Ungaretti aufwuchs, mit Korsika, Süditalien, Apulien, der Poebene und den Lagunen seines Deltas, Flandern, Holland u.a.
Die Magie des jeweiligen Ortes und seiner Bewohner, seine Landschaft, Geschichte oder Kunst bringt er dem Leser auf eine sehr persönliche Weise nahe.

Diese vollständigste aller bisher erschienenen Ausgaben enthält auch diejenigen Reiseskizzen, die nicht in die italienische Ausgabe von 1961 aufgenommen oder in der Zeitung veröffentlicht wurden.
In ihrem Nachwort geht Angelika Baader auf ›Reflexe und Verdunklungen: Poetisches und Politisches in Ungarettis Reiseberichten‹ ein.
Im Anhang findet sich ein Stellenkommentar zu Dialektwendungen, Namen, Mehrdeutigkeiten, die Darstellung der Entstehungs- und Publikationsgeschichte, die Varianten.

Leseprobe:

Legenden
Diese Gedanken gingen mir im Kopf herum, während das Bähnchen am Tyrrhenischen Meer entlang vor sich hinfuhr. Und eine Farbe wie von einem großen Aal kam und sah mich vom Fenster aus, das so träge war in seiner Fahrt; und so etwas wie eine Plage unsichtbarer Mücken: vielleicht durch die Nähe des Weihers von Biseglia. Wir sind dort, wo der Golo sich darauf vorbereitet, sich in ein Delta zu teilen, und während der Zug, wie eine Ameise mit dem Ungleichgewicht ihrer Vorräte auf dem Rücken, sich windend in die Landschaft vordringt, die am dahinschnellenden Fluß entlangführt, nehmen die Berge Gestalt an, bekommen Schwere und äußern sich.
...
Andere Erinnerungen brauche ich nicht. Ich verliere mich in einem Gewirr von Gäßchen, ich steige auf den Felsen hinauf, stelle mich ans Geländer. Ein tiefer Abgrund öffnet sich, und unten sieht man, um einen Felsen gewickelt, den Tavignano und Berge und Brücken und Häuser und den Restonica, der wie ein Kaninchen aus einer Schlucht herauskommt. Und im Erlöschen des Himmels meine ich einen Mufflon zu sehen, der von Fels zu Fels springt und, unbezähmbar, auf der letzten Spitze stehen bleibt. Und von dort oben einen weiten Sprung macht und mit der Musik der schattigen Wasser verschwindet.

An den Quellen des Aquädukts
Der Durst.
Ich habe die Wüste kennengelernt. 
Von Ferne ließ ein plötzliches dünnes Rinnsal klaren und lebhaften Wassers die Pferde vor Freude wiehern.
Ich habe Länder mit großen Flüssen kennengelernt.
Ich habe die Länder kennengelernt, die unter dem Meeresspiegel liegen.
Ich habe das Wasser kennengelernt, das versickert, das Wasser, das krank wird, das Wasser mit den Krusten, mit entsetzlich weißen Blüten, das ungesunde Wasser, die metallischen Reflexe des Wassers, die einer Tonsur  gleichende Erde zwischen seltenen Büscheln wassersüchtiger Gräser.
Ich habe Amsterdam kennengelernt, wo man lebt wie stilliegende Schiffe mit dem Blick unter Wasser. Die Architektur der Häuser selbst, ohne Volumen, geteert, findet dort nur im Sich-Spiegeln Festigkeit. Legt über eine Architektur so viele Verzierungen, wie ihr wollt, sie wird immer ein Skelett sein; aber dort ist sie nicht einmal ein Skelett: sie ist ein Traum. Und tatsächlich habe ich, aus der Höhe eine mit ihren Lichtern fliehende Straßenbahn betrachtend, sie als eine auf dem Rücken liegende Larve unter den Schleiern und Durchsichtigkeiten eines faulenden Wassert liegen sehend, die Wahrheit Rembrandts kennengelernt: Traum.

Pressestimmen:

Das Sprechen der Steine (Maike Albath, NZZ, 23.2.02)

Giuseppe Ungarettis Reiseprosa vollständig auf Deutsch

Italien ist für Ungaretti lange Zeit nur ein Wort. Aufgewachsen in Ägypten und geprägt durch seine Studienzeit in Paris, lernt er erst mit 26 Jahren das Heimatland seiner Eltern näher kennen. Er zieht als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg. In den Schützengräben auf dem Karst von Triest kritzelt er Gedichte auf lose Notizzettel, Buchrücken und alte Rechnungen - neuartige, spröde Texte, knapp und ohne jede barocke Rhetorik, wie sie damals in Italien Mode war. Ungarettis Kargheit wirkt wie eine Befreiung: Der junge Dichter mit der exotischen Herkunft wird sofort berühmt. «Allegria di naufragi» (Freude der Schiffbrüche) heisst 1919 sein erster Gedichtband, in dem der Zyklus «Il porto sepolto» (Der versunkene Hafen) von 1916 enthalten ist. Eine Anspielung auf seine Geburtsstadt verbirgt sich hinter der Überschrift, die 1923 zum Titel der zweiten Auflage der Sammlung werden sollte. Gemeint ist der antike Hafen Alexandrias. Ungaretti ist 43 Jahre alt, als er sich im April 1931 in Neapel nach Ägypten einschifft und zum ersten Mal an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt.

Unpolitischer Dichterblick

Die dreissiger Jahre sind eine verheissungsvolle Zeit für Ungaretti: Er arbeitet täglich an neuen Texten, übersetzt Góngora, Blake, Saint-John Perse und Paulhan und zählt zu den bedeutendsten Dichtern Italiens. Nur arm ist er geblieben. Weil der begeisterte Mussolini-Anhänger Frau und Kinder zu versorgen hat und seine Beschäftigung im Aussenministerium nach zehn Jahren endet, geht Ungaretti als Berichterstatter der Turiner Zeitung «Gazzetta del Popolo» auf Reisen. Seine journalistischen Aktivitäten verbindet er mit Lesungen und Vorträgen. Impressionen und Beschreibungen sind es, die er seinen Lesern aus Ägypten, Korsika, Polesine, Paestum, Neapel, Flandern, Holland und Apulien liefert. Für Umbrüche, die sich nach der Machtergreifung Hitlers schliesslich überall in Europa andeuten, besitzt er kein Gespür. Da Ungaretti in seiner Lyrik zwar autobiographische Erfahrungen verarbeitet, sich aber mit Erkenntnis, den Bedingungen des menschlichen Daseins und der Möglichkeit, diese in Sprache umzusetzen, beschäftigt, sind seine grossartigen Gedichte völlig frei von politischen Stellungnahmen.

Anders die Reiseblätter: Hier und da scheint seine regimetreue Haltung durch, dann und wann tritt ein naiver Patriotismus an den Tag. Zwar hatte Ungaretti für die italienische Ausgabe von «Il deserto e dopo», die 1961 erschien, tendenziöse Stellen entschärft und einen peinlichen Lobgesang auf ein faschistisches Ehrenmal in Bari ganz gestrichen, aber die Herausgeber der hervorragend edierten und sehr gut übersetzten deutschen Gesamtausgabe haben die Verbesserungen in den Anmerkungen festgehalten und in einem Nachwort darauf verwiesen. Die wenig ehrenhaften politischen Überzeugungen des Dichters, im Italien der Nachkriegszeit meist diskret übergangen, sind zwar befremdend, aber sie schmälern sein Verdienst für die moderne europäische Lyrik nicht. Eher vervollständigt sich das Bild des Menschen Ungaretti.

Ungaretti war als Schriftsteller und Lyriker in der Welt unterwegs, nicht als Reporter. Wer klassische Feuilletons oder Reiseberichte erwartet, wird von «Die Wüste und weiter» enttäuscht sein. Der Blick des Dichters konzentriert sich häufig auf die äussere Erscheinung der Dinge, analytische Tiefenschärfe entwickelt er selten. Er nimmt Landschaften, Lichtverhältnisse und Stimmungen wahr, vermischt in seinen Beschreibungen Gegenständliches mit seelischen Zuständen und benutzt die Historie als Folie: «Wenn vor dir in der Ferne der Spitzbogen der Porta Troia auftaucht», heisst es 1934 über Apulien, «und du, in einem unermesslichen Sich-Ergiessen von Einsamkeit, Lucera siehst, aus dem unendlichen Leuchten des Korns emporgeschnellt auf seine drei Hügel, dann kann es dir widerfahren, dass einige der abenteuerlichsten Gestalten der Geschichte sich zu dir gesellen.» Die Eindrücke scheinen vor allem seinen eigenen dichterischen Kosmos zu beleben. Plötzlich lüftet sich ein Vorhang: Es ergeben sich Einblicke in die Poetik Ungarettis. Eingewoben in die Beschreibungen tatsächlich existierender Landstriche sind ästhetische Überlegungen.

Im «Ägyptischen Notizheft», wie die erste Textreihe des Bandes heisst, entdeckt man den Ursprung des Bildfeldes der Wüste, das in Motiven wie Licht und Sonne variiert wird und bis in sein lyrisches Spätwerk hineinragt. Alexandria ist Metapher und konkreter Ort zugleich: Als eine Stadt am Rande der Wüste, umgeben von einer vernichtendenLandschaft, gilt sie als Stadt des Nichts, in der die «Zeit als Zerstörerin» fortwährend spürbar ist. Sie spiegelt die Conditio humana schlechthin: das Getrenntsein vom eigenen Ursprung. Es ist die Suche nach dem Absoluten oder dem «verheissenen Land», wie Ungaretti eine späte Gedichtsammlung nennt, das den Menschen umtreibt. Als Sohn italienischer Einwanderer - sein Vater war am Bau des Suezkanals beteiligt - hatte er die existenzielle Heimatlosigkeit am eigenen Leib erfahren. Erst 1921 wählte Ungaretti nach seiner Studienzeit in Paris und der Parenthese als Soldat endgültig Rom als Wohnsitz.

Araber, Islam . . .

Anders als in Italien oder Nordeuropa zeigt er sich in seinem Geburtsland empfänglicher für untergründige Strömungen: «Und wenn ich die Araber sehe, die den Wert des Raums zu schätzen wissen, (. . .) wenn ich sie begierig ein Automobil betrachten und vom Flugzeug träumen sehe - all ihre Legenden sind voll von fliegenden Menschen -, komme ich, weil ich weiss, dass ihr Land die Wiege von Königreichen ist, nicht umhin, mich zu fragen, ob diese Mittel nicht eines Tages gegen den gekehrt werden, der ihnen beigebracht hat, damit umzugehen. Wir sollten auf keinen Fall vergessen, dass dem Islam in der schwarzen und fernöstlichen Welt eine Kraft zum Proselytentum innewohnt, die Tag für Tag wächst.» Doch so aufregend manche Entdeckungen über die Hintergründe seiner Dichtung sind, so langweilig gestalten sich die lehrbuchartigen Auskünfte über Königreiche, Pharaonen, aktuelle wirtschaftliche Fragen und in Ägypten ansässige Völker, die vermutlich dem Zeitungsleser geschuldet sind.

Ähnlich zäh nehmen sich die Schilderungen von Holland und Flandern aus, wo Ungaretti im Frühjahr 1933 unterwegs ist. Diese Länder bleiben dem Italiener fremd, ihre Andersartigkeit vermag er nur an der Oberfläche zu streifen, der Calvinismus muss als Passepartout-Erklärung für alles Ungewöhnliche herhalten. Dabei scheint ihm Europa mit seiner Geschichte wie eine offene Wunde dazuliegen, «all die alten Steine sprechen jetzt», sagt er. Ungleich lebendiger sind die Reiseblätter aus Korsika, dem italienischen Süden und dem «Land im Wasser», wo Ungaretti auf Aalfang geht und die Lebensgewohnheiten der Fischer beschreibt. Die italienischen Reiseberichte scheinen von einem ursprünglichen Entdeckergeist getragen, was vielleicht daran liegt, dass Ungaretti sein Heimatland erst gerade kennen lernt. Italien ist ausserdem der Ort, an dem die Elemente in Einklang gebracht werden: Anders als in der ägyptischen Dürre gibt es hier Wasser und fruchtbaren Boden. Die feierlichen Beschreibungen von Flüssen - ein anderes zentrales Motiv seiner Lyrik -, Brunnen und eines Aquädukts in Apulien haben also auch einen symbolischen Wert: Sie stehen für den Anfang der Menschheitsgeschichte, die in seiner Bildwelt jenseits der Wüste beginnt, wenn das Land urbar gemacht wird. «Dichtung heisst das Gedächtnis in Träume überführen und ein glückliches Licht auf die Strasse des Unbekannten werfen», schreibt er am 19. Juli 1932 in Neapel. Den afrikanischen Wurzeln seiner Träume kommt man in «Die Wüste und weiter» auf die Spur.

Maike Albath, NZZ, 23.2.02

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