Spielmann, Ellen (Hg.)

Reisende Diebe
Brasilianische Gedichte 1970 - 1990

Zweisprachig. Hg. und eingeleitet von Ellen Spielmann.
192 Seiten, Br., mit Autorenfotos und ausführlicher Bibliographie.
€ 18,50  SFr 37  *Ö-€ 19,10
(ISBN) 3-87410-057-X

Aus dem Brasilianischen von Ellen Spielmann, Sarita Brandt, Kurt Scharf, Friedrich Frosch und einem Team junger ÜbersetzerInnen.

Die Autoren:
Ana Cristina Cesar, Joao Moura Jr., Ronaldo Brito, Sebastiao Uchoa Leite, Zuca Saldanha, Francisco Alvim, Paulo Leminski, José Paulo Paes, Duda Machado, Armando Freitas Filho, Dora Ribeiro, Adélia Prado, Hilda Hilst.

Aus dem Nachwort der Herausgeberin:

"Es ist ein offenes Geheimnis, daß die brasilianische Poesie der Gegenwart in ihren innovativen Impulsen der Prosa überlegen ist, sie wartet mit Überraschungen auf, beunruhigt, bereitet Vergnügen, sie ist hybrid, anspruchsvoll, in einigen Fällen brillant und vor allem vielversprechend. Wie sie schreiben widerspricht allen Vorurteilen gegenüber einem exotischen Land. 
Diese Gedichte sind oft gerade nicht mit „Blut, Schweiß und Tränen" geschrieben, sondern „mit Glacéhandschuhen" von Autoren, die voll und ganz im globalen wie im brasilianischen Kunst- und Literaturleben stehen."

Biographie:

Ellen Spielmann wurde 1958 in Kassel geboren. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin 1990-1995, Lehrtätigkeit in Rio de Janeiro. Herausgeberin von Brasilianische Fiktionen. Gegenwart als Pastiche. 1994.

Leseprobe:

O MURO

me dissipo onde me vê

o muro

espaço em que adejo

sem ter memória

de mim 

de frente para o muro 

-- olhos gastos –-

sequer me rabisco 

em gestos

o muro no entanto

é quanto basta:

melhor que ninguém

refrata

o sol que só se põe

em mim

o muro que está aquém

do espelho e do retrato

muro: minha

frívola idade 

Joao Moura Jr.

DIE MAUER

 ich löse mich auf wo mich

 die mauer sieht

 raum in dem ich flattre

 ohne erinnerung

an mich

im angesicht der mauer

-- verschlißne augen --

kritzle mich nicht mal

 in gesten hin

 die mauer ist indessen

 dafür genug:

 besser als jeder andre

 wirft sie die sonne zurück

 die nur niedergeht

 auf mich

 die mauer ist diesseits

 von spiegel und bild

 mauer: mein

eitles alter

REFLEXOS: 
O CANAL

Há tempos

Li Po

Viu a lua

No fim do poço

Hoje vêem-se

Reflexos de luzes 

No canal 

Luz nenhuma 

Era só metáfora 

O reflexo: 

De longe as luminárias

Sem mistérios

 

Sebastiao Uchoa Leite

SPIEGELUNGEN: 
DER KANAL

einst sah

li po

den mond

am grund des brunnens

heute sieht man

das licht gespiegelt

im kanal

keinen mond

nur ein gleichnis

war das spiegeln

von weitem festbeleuchtung

ohne geheimnisse

 

Pressestimmen:

NZZ: Brasilien und seine Poesie

tbg. Eine neue Anthologie des Münchner Kirchheim-Verlages widmet sich brasilianischen Gedichten der Jahre 1970 bis 1990, und zwar von dreizehn Dichtern, die zwischen 1926 und 1952 geboren wurden (darunter vier Dichterinnen). Mit drei Gedichten von Ana Cristina Cesar, der jüngsten Autorin (1952 in Rio de Janeiro geboren, dort Freitod 1981) beginnt die Annäherung, die zu einer allerersten und punktuellen Entdeckung der Vielfalt und Vitalität brasilianischer Lyrik zweier Dekaden des Übergangs zur Demokratisierung einlädt. Herausgeberin ist die Berliner Lateinamerikanistin Ellen Spielmann, die mit einer Studiengruppe des Lateinamerika-Instituts der FU Berlin den Grossteil der Übersetzungen erarbeitete. In ihrem Nachwort beschreibt Spielmann treffsicher die Kreativität und Bedeutung der Poesie in Brasilien: «Es ist ein offenes Geheimnis, dass die brasilianische Poesie der Gegenwart in ihren innovativen Impulsen der Prosa überlegen ist, sie wartet mit Überraschungen auf, beunruhigt, bereitet Vergnügen, sie ist hybrid, anspruchsvoll, in einigen Fällen brillant und vor allem vielversprechend.» Da ist etwa João Moura jr., der jüngste lebende Poet dieser Sammlung (1950 in Rio geboren), der auch ein passionierter Übersetzer ist und übersetzte Dichterkollegen als seine «Hausgäste» in die Poesie aufnimmt. Oder Adélia Prado (Jahrgang 1936), hier die bekannteste Vertreterin der Poesie Brasiliens. Zu nennen ist noch José Paulo Paes, Lyriker und Chemiker, Übersetzer aus sechs Sprachen, der älteste Autor dieser bemerkenswerten Textsammlung (Jahrgang 1926).
Neue Zürcher Zeitung, 29. Dezember 2001, Ressort Feuilleton

www.novacultura.de

"Ob die zeitgenössische Lyrik Brasiliens tatsächlich, wie die Herausgeberin in ihrem Nachwort postuliert, «der Prosa überlegen ist», sei dahingestellt. Doch in der Tat gingen spätestens seit dem Modernismus der zwanziger Jahre wichtige kulturpolitische Impulse von der Lyrik aus. Die konkrete Poesie der Fünfziger wurde gar zum literarischen Exportartikel und befruchtet bis heute nicht nur die Literatur sondern auch bildende Künste und die Musik. Doch die Vielgestaltigkeit der brasilianischen Lyrik erschöpft sich nicht in diesen zwei Markenbegriffen, verästelt sich in Strömungen und Individuen. Eine bestimmte Dominanz ist spätestens seit den Siebzigern nicht mehr auszumachen, zumal die zeitliche Nähe eine übergreifende Wertung und Gewichtung nicht mehr zulässt. Eine Anthologie brasilianischer Lyrik von 1970 bis 1990 kann deshalb nur Schlaglichter setzen, auf Namen und Themen aufmerksam machen, eventuell vergessene Figuren wieder aufs Tapet bringen, die Uneinheitlichkeit dokumentieren. Dreizehn Lyrikerinnen und Lyriker hat Ellen Spielmann zu diesem Zweck gemeinsam mit einem Team von Übersetzerinnen und Übersetzern in diesem Band versammelt. Neben anerkannten und bekannten Namen wie Ana Cristina Cesar (Jahrgang 1952 und damit die jüngste Lyrikerin dieses Lesebuches), Sebastião Uchoa Leite, Paulo Leminski, Duda Machado, Armando Freitas Filho, Adélia Prado oder Hilda Hilst, finden sich – als besonderes Bonbon – auch einige Texte und Zeichnungen des fast unübersetzbaren Zuca Saldanha, dem anarchischen Ex-Diplomaten, dem es (nicht zuletzt durch seinen Wohnsitz in Deutschland) immer wieder gelingt, dem traditionellen Literaturbetrieb zu entwischen. Hintergründiger Witz ist ein Merkmal, das viele der 65 Gedichte dieser Anthologie prägt. Andererseits betont Ellen Spielmann in ihrem kurzen Nachwort die «Vermittlung persönlicher, alltäglicher Erfahrungen, die ohne Leidenschaft für das schwerwiegende `Wahre´ und `Authentische´ auskommt » als ein Charakteristikum der jüngeren brasilianischen Lyrik. Dass es daneben durchaus immer wieder Anklänge an die übermächtigen Strömungen der Zwanziger und Fünfziger gibt, versteht sich von selbst. Ein Buch voller Überraschungen und großer Spannungsbögen, die, wie im Falle von «Anchietas Poetik» auch die großen Themen der Geschichte und der Gegenwart nicht außen vor lassen — Wenn auch auf die bereits erwähnte «unspektakuläre» Weise:

«Anchieta schrieb in den Sand
die Flut nahm es mit
Anchieta schrieb in den Sand
die Flut nahm es mit
Auf diese Art hatte der gute
Jesuit die Erfindung
des Computers gewissermaßen vorweggenommen»

Michael Kegler in www.novacultura.de

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