Giuseppe
Ungaretti:
zur Gesamtausgabe
Bilder und Zeiten 10. Febr. 2001
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Chor der weißen Gerippe
Giuseppe Ungaretti in seinen Gedichten. Von Winfried
Wehle
"Wer diese Verse liest, wird auf das tiefempfundene Zeugnis einer
Dichtung stoßen, die aus Sensibilität, Qual, Suche, Leidenschaft und
Geheimnis erschaffen wurde." So würdigte der spätere Diktator
Mussolini eine Sprachkunst, die nach deutschen Begriffen der Zeit wohl als
"entartet" in Verruf geraten sein würde. Seine Worte galten dem
Lyriker Giuseppe Ungaretti (1888 bis 1970). Er war 1916 mit einem
Bändchen Gedichte aus dem Krieg in den Ziergarten der damaligen Poesie
eingebrochen, wie er von Carducci, Pascoli oder D'Annunzio bestellt wurde.
Ihrem rethorischen, eloquenten und pathetischen Zuschnitt setzte er die
gebrochene, atemlose Stimme dessen entgegen, der im Schützengraben Verse
aufschrieb. "Ich mußte das, was ich empfand, rasch sagen, und wenn
ich es rasch sagen sollte, so mußte ich es mit wenigen Worten
sagen."
Der Sprache einen solchen Kahlschlag zuzumuten - bis
hin zu Gedichten mit nur einem Vers - kam einem Bildersturm gegen die
poetische Tradition gleich. Es wäre leicht gewesen, Ungaretti
abzuurteilen. Man hat es auch getan. Aus der Richtung Benedetto Croces
etwa, die solchen Sprachverkehr in die "nonpoesia" abdrängte.
Anderen schien das "hermetisch", als absichtsvolle Verdunklung
à la Mallarmé. Daß der Duce gleichwohl für Ungaretti und dieser für
den Faschismus einen Sinn zeigte (er war später, bis 1936, Pressesprecher
im Außenministerium), hat viel mit Italien zu tun. Beide drangen, aus
denkbar unterschiedlichsten Beweggründen, auf dieses Land ein. Der eine
getrieben vom Wahn einstiger Macht und Größe eines Volkes, das sich noch
immer nicht wirklich gefunden hatte. Der andere als Poet, im Grunde
unpolitisch, angehalten von einem gewissermaßen semiotischen
Patriotismus. Das brachte ihn ins politische Zwielicht und kostete ihn den
Nobelpreis.
Dennoch: Die Sprache seiner Verse selbst hielt allen
Prüfungen stand. Selbst Leser, die sehr sensibel gegenüber falschen
Zungenschlägen waren, liehen ihm ihre Stimme: Ingeborg Bachmann, Hilde
Domin, Paul Celan brachten ihn ins Deutsche. Dafür gibt es wohl einen
Grund, den Stein, der ins Wasser geworfen wurde und durch alle
Wortbildungen hindurch seine Kreise zieht: das Ich, das in ihnen laut
wird, es ist, in fast mythischer Größe, der Ausländer. In ihm
verkörpert sich so etwas wie die innerste Komplexion von Ungarettis
Dichtung, die nie ganz sich schließende Wunde, die ein Leben lang
poetisch behandelt werden wollte.
Gewiß hat sie mit biographischen Verletzungen zu tun:
die toskanische Familie als Fremdarbeiter beim Bau des Suez-Kanals in
Alexandria, der Stadt zwischen Wasser und Wüste in Ägypten; Ungaretti
war zwei Jahre, als der Vater starb; er hatte eine kroatische Amme,
besuchte eine französische Schule und kannte Italien nur vom Hörensagen.
Erst mit 24 betrat er es, zog die Uniform seines Landes an, "als wär
sie die Wiege /meines Vaters". Er wollte von der selben Erde
getragen" werden wie dessen "Volk" ("Italien") -
und blieb Italiener doch immer zuerst als Dichter: Dem Ausländer war die
Sprache die erste Heimat geworden. "Poesie / ist die Welt die
Menschheit / das eigene Leben / erblüht aus dem Wort". An ihr hat er
all das Fremde, das ihm eigen war, abgegolten. Sie hat darüber ihrerseits
exterritoriale Züge angenommen. Aber erst so gewann sie den - modernen -
Sinn dafür, daß jedes Wort, jede Zugehörigkeit stets "eingegraben
ist" in einen "Abgrund" von Unzugehörigkeit
("Abschied").
Um diesen Knoten seiner Existenz poetisch zu knüpfen,
hat Ungaretti einen Grundwortschatz an Bildern und Sprachgesten angelegt.
Der Ausländer erkennt sich vor allem in der Wüste. Sie steht für das
Nichts als den Boden des Seins. Im Feuer ihres Lichts verbrennt alles
Kreatürliche und Geschichtliche, und erst in dieser Leere und vor dem
Schweigen, das sie gebietet, wird das Sehen und Hören zum Ereignis: Dann
"breitet" sie sich aus "wie Farben", die ineinander
übergehen ("Teppich"), und die Wörter, die man sagt, fangen
an, ihre Grenzen zu leugnen und sich in einen "rniraggio", in
fließende Bedeutungsspiegelungen zu verwandeln. Dieses Wunder aber, daß
aus der "Verwüstung" der Sprache neues Leben ersteht, das
vollbringt die Poesie.
In einem Schlüsseltext, "Variationen über
Nichts", vergleicht Ungaretti das Gedicht mit einer Sanduhr. Es
bringt eigentlich "nichts" hervor. Doch es läßt den Sand der
Sprache fließen, so daß man die Zeit sieht und hört und sie dadurch
"nicht im Dunkel verschwindet" - Ungaretti hat sich seit 1912,
als Student in Paris, intensiv mit Henri Bergson auseinandergesetzt. Die
Sanduhr - das ist aber nicht weniger ein Bild für moderne Kunst. Da es
nichts zu sagen gibt - Ungaretti lehnte alle Metaphysik ab -, bleibt nur,
dieses "Nichts" in immer neueren "Variationen" zu
sagen. Möglich wird dies, wenn der Vers, seinem Namen gemäß, als Kunst
der In/vers/ion ausgeübt wird. Der Dichter ist "die Hand im
Schatten" trüber Lebenserfahrungen, die die "Sanduhr"
umdreht. Nicht als ob dadurch alles anders würde. Aber alles, was an die
Kette leidiger Begriffe gelegt ist, kann im Gedicht als re/vers/ibel
erfahren werden. Im ersten großen Gedichtband mit dem paradoxen Titel „Freude
von Schiffbrüchen" erfährt das Wort im Wasser, einem mächtigen
Gegenbild der Wüste, eine Wiedertaufe im Meer seiner Möglichkeiten. Wo
es nicht mehr darum gehen kann, irgendwo anzukommen, ist die
"Rückkehr zur Bewegung" ("Variationen") nicht ein
hohes, vielleicht das höchste Lebensziel?
Und wer könnte dem besser dienen als der Dichter, der
Ausländer, der selbst keine feste Bleibe hat und begreift, daß er, um
Dichter sein zu können, dies als seine Bedingung anzunehmen hat. Denn
"dem der bleibt / wütet wieder, grausam, die Illusion".
Ungaretti hat ihn deshalb zum Nomaden, einem Geistesverwandten der Wüste
gemacht. Als "girovago", als Nichtseßhafter soll er durch die
Einöden veräußerlichter Sprache ziehen. Ja sich selbst ganz aufzugeben
hat er, einem „weißen Gerippe im Sand" vergleichbar ("letzte
Chöre"). Ist soviel Selbst-Erhaltung aber auszuhalten?
Gerade in seiner mittleren Zeit, zwischen den Kriegen,
konnte, so scheint es, Ungaretti dem "miraggio" nicht
widerstehen, sich große Projekte, "grausame Illusionen" der
Zugehörigkeit zuzuschreiben. Die ursächlichste war, "eine schöne
Biographie zu hinterlassen". "Vita d'un uomo" sollte als
Titel über seinem Gesamtwerk stehen, mehrdeutig changierend zwischen
"Ein Menschenleben" (M. v. Killisch-Horn), "Leben eines
Mannes" (Ingeborg, Bachmann) - oder doch: "Vita eines
Menschen"? "Schön" allerdings nicht, weil sich
schließlich alle Widersprüche lösten, sondern die Zeit des Lebens
zwischen Freude und Schmerz einen inneren Zyklus durchläuft - wie in
Petrarcas "Canzoniere". Daneben tauchte eine andere Versuchung
aus der Wüste auf, mythisch verlockend, die "Terra promessa"
("Das verheißene Land"). Es zeigt sich in verschiedenen
Ansichten, aber hat doch nur ein bewegendes Interesse: mit etwas
Anfänglichem, Ursprünglichem einen Bund einzugehen.
Über Dante und Vergil wird Ungaretti zu einem neuen
Aeneas, der zurückblickt, um die Zukunft eines neuen Goldenen Zeitalters
sehen zu können. Die Gedichte schwellen an, werden pathetischer,
geformter. Durch die klassische Tönung schimmert erneut das Bild eines
Italien durch, das, von nationalistischen Gefühlen geblendet, als
Phantasma einer Oase herhalten muß. Doch mitten in faschistischer
Selbstberauschung tritt Ungaretti einen Rückzug ins Exterritoriale an: Er
geht nach Brasilien (1937 bis 1942). Wunschbilder können nur in der Ferne
und Fremde bestehen. Was Ungarettis poetischer Herbst hätte sein sollen,
schlug jedoch jäh in einen Winter um. Der Tod seines Sohnes, des Bruders
und die vielen Toten des Duce haben alle Gedankenflüge vernichtet.
"Der Schmerz" lautet der erste Gedichtband nach dem Krieg. Er
ist die Bilanz eines Scheiterns. Was haben die Bilderbögen für eine
"schöne Biographie" erbracht? "Daß nichts ist das Ganze
als Schutt." Der Poesie bleibt kaum mehr, als Epitaphien zu
verfassen: "Jenes geduldige Rufen / Von verbissenem Leid
gewürgt". Man hat den späteren Gedichten Uninspiriertheit
vorgehalten. Gewiß ist mehr Spreu in ihrer poetischen Ernte,
Beiläufiges, Hergebrachtes. Dennoch dürfen sie nicht fehlen. Ungaretti
hat, vor allem im "Merkbuch des Alten", den Mut gehabt, seine
"Verwirrung von Luftspiegelungen" einzugestehen und das
Nicht-Ankommen eines Lebenslaufes als dessen wahre Bestimmung anzunehmen.
Wohl deshalb hat Paul Celan gerade diesen letzten Teil übertragen.
Zurück bleibt ein "Verbannter" und
"Blinder" ("Überdauernde Kindheit"), dem selbst die
Hoffnung eines Irrenden genommen ist: daß es einen rechten Weg gäbe,
auch wenn er ihn selbst nur noch als verloren kennt. Und doch besteht ein
"Wille, trotz allem zu leben der Zeit zum Trotz, dem Tod zum
Trotz", schreibt Ungaretti ein Jahr vor seinem Ende. Sein Motiv zieht
er aus einer fast verschütteten Erfahrung des Lebens, die der Doppelsinn
von "wandeln" festhält: nirgends haltmachen zu können
wenigstens als Chance zu ergreifen, nicht ein und derselbe sein zu
müssen. Die Metamorphose ist einer der untergründigen Fluchtpunkte
seiner modernen Ausweglosigkeit.
Das deutsche Publikum ist in der guten Lage, den
gesamten lyrischen Ungaretti zu besitzen. Die Verdienste der dreibändigen
Ausgabe sind bekannt (F.A.Z. vom 24. April 1993 und 26. April 1994). Noch
bevor jetzt der vierte Band (mit Prosaschriften) erscheint, haben der
Übersetzer Michael von Killisch-Horn und der Verleger Peter Kirchheim
eine Anthologie "der charakteristischen Gedichte" in einem Band
herausgebracht. Entstanden ist ein durchaus repräsentatives poetisches
Ungaretti-Album. Dennoch wäre es besser als Einlesebuch zu bezeichnen,
weil es auf die italienischen (und französischen) Originale verzichtet.
Die textnahe Übersetzung macht sich dadurch viel mehr als Übersetzung
bemerkbar als in der zweisprachigen Werkausgabe. Aber vielleicht ist dies
nur die List eines kleinen und mutigen Verlages, die große Ausgabe
notwendig erscheinen zu lassen. Denn dort, im Rückgang vom Deutschen ins
Italienische, lebt die Lust an sprachlichen Untergängen erst richtig auf.